HANS CARL ARTMAN
MAN SÄGT
frühling
in unsrer waldschule
mit wenig
mühsamkeit
ist er reif
zum fall
er kommt
vom baume
wie ein
kuckucksei
wir zeigen
den neuen
frühling
dem lehrer
da!
1969
aus: H.C. Artmann: Sämtliche Gedichte, hrsg. von Klaus Reichert, Verlag Jung & Jung, Salzburg 2003
Das klassische Frühlingsgedicht gefällt sich im freudigen Jubel über das Erwachen der Natur und der Sinne. Die Kälte und Düsternis des Winters werden vertrieben, in der omnipräsenten Blütenpracht scheint die Welt offen zu stehen. Nicht so bei dem Wort-Gaukler und poetischen Magier Hans Carl Artmann (1921–2000).
In diesem frühen Artmann-Gedicht, zuerst erschienen im Band ein lilienweißer brief aus lincolnshire (1969), wird der Frühling als Ergebnis pädagogischer Anstrengung herbeigezwungen – mit der „säge“ in der „waldschule“. Er scheint der Natur genauso untergeschoben worden zu sein wie das sprichwörtliche „kuckucksei“. Insgesamt deutet die Bildlichkeit eher auf den Herbst als die Jahreszeit, in der die Früchte „reif zum fall“ sind. Es fällt jedenfalls schwer, diesen in der „waldschule“ modellierten Frühling als Verheißung zu begreifen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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