HANS CARL ARTMANN
WANN IM HERD KEIN LUSTIG FEUER
und am dach kein ungeheuer,
in der speis nicht händ noch füß
und kein herzchen für den spieß
und kein werwolf in dem bett
und der hänsel noch nicht fett,
keine gretel in der pfanne
und ihr blut nicht in der wanne
und kein einzig äuglein brachen,
kann die alte hex nix kochen.
1965
aus: H.C. Artmann: Sämtliche Gedichte. Hrsg. von Klaus Reichert. Verlag Jung und Jung, Salzburg 2003
Unsere altvertrauten Märchen, die mit ihren wundersamen Begebenheiten meist für ein kindliches Publikum bestimmt sind, neigen mitunter zu Grausamkeiten und zu kannibalistischen Phantasien. Diesen motivischen Umstand hat sich der österreichische Wortmagier und Avantgardist Hans Carl Artmann (1921–2000) zunutze gemacht und in den 1960er Jahren eine Reihe schwarzhumoriger Kindergedichte geschrieben.
Die Gestalt der Hexe ist in den Volksmärchen der Brüder Grimm ein unheilbringender Dauergast. Bei Artmann ist es vor allem die menschenfressende Hexe aus dem Grimmschen Märchen von „Hänsel und Gretel“, deren Verschlingungswünsche ausgiebig zitiert werden. Eine besonders makabre Pointe setzt hier die Vorstellung von einer Vorratskammer, in der einzelne Körperteile zum künftigen Verzehr aufbewahrt werden.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Schreibe einen Kommentar