HANS MAGNUS ENZENSBERGER
Minimalprogramm
Verzicht, Entsagung, Askese –
das wäre schon zu hoch gegriffen.
Überwältigend, was alles entbehrlich ist.
Von Sonderangeboten keine Notiz zu nehmen.
Reiner Genuß! Nirgends aufzutauchen,
das Meiste zu unterlassen –
Erkenntnisgewinn durch Abwinken.
Nur wer vieles übersieht,
kann manches sehen.
Das Ich: eine Hohlform
definiert durch das, was es wegläßt.
Was man festhalten kann,
was einen festhält,
das ist das Wenigste.
1995
aus: Hans Magnus Enzensberger: Kiosk, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1995
„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden verändert, es kommt aber darauf an, sie zu verschonen.“ Diese listige Umkehrung eines berühmten Satzes von Karl Marx hat der 1929 geborene Dichter Hans Magnus Enzensberger als Maxime für sein poetisches Alterswerk adoptiert. Er plädiert unentwegt für die Kunst der Unterlassung, für die Nicht-Intervention, die Welt-Verschonung und skeptische Selbstbegrenzung.
Das „Ich“ lässt in diesem 1995 erstmals im Band Kiosk veröffentlichten Gedicht bewusst ab von allen „dialektischen“ Ambitionen, die den linken Aufklärer Enzensberger einst angetrieben hatten. Es geht nicht um Expansion von Wissen, Erkenntnis und Ökonomie, sondern um Konzentration auf „das Wenigste“. Das „Minimalprogramm“ eines skeptisch gewordenen Intellektuellen, der nicht mehr den Weltgeist strapazieren will, sondern sich – durchaus resignativ – aufs „Abwinken“ beschränkt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Kurz, ohne Tiefe. Das Gedicht “Minimalprogramm” nannte ich schon zum “Minimalprinzip” um, einfach unscharf aus dem Gedächtnis. Es war an einem Berliner U-Bahnhof mit anderen “Stadt-Gedichten” vor Jahren ausgestellt. Mit Stift schrieb ich den Text mir auf, ein Smartphone hatte ich damals nicht. Es sollte ein Mantra für mich werden, zur Befreiung “vom Überfluss”. Ein Schlüssel zur inneren …
Seit Tagen in 2021: Mit FFP2 im Verkehr ins Büro, zum “Danach” roter Wein, hochwertiger Käse, manche Übungen in “vegan” dazu, Theater im Stream, unerwartete Anregungen per Mail und liebenswerte Textnachrichten, so vergehen die Abende.
Albrecht Thies, Sozialarbeiter, mit Hintergrund “Ästhetische Praxis” an der FH Potsdam (95-00), Berlin 2021-02-06
Lieber Albrecht, in Deiner Formulierung glaube ich den Mann wiederzuerkennen, der leider aus meinem Umfeld verschwunden ist. Mehr als interessant, dass nach einem Sommer voller Nichtstun und wiederholter Suche nach Dir dieses Gedicht meinen Weg kreuzt! Falls Du Interesse hast, melde Dich bitte bei mir; solltest Du Deine alte Heimat besuchen, freue ich mich über ein Wiedersehen. Herzlicher Gruß!