HANS PETER KELLER
Du oder ich oder wer
Jeder lebt von sich getrennt.
Sieht er sich draußen, zieht er nicht den Hut.
Obschon es ihm auf den Nägeln brennt.
Gut.
Besser einen Umweg machen.
Wenns geht, auf du mit Bettler Strolch Polizist
oder was sonst zum Lachen
vorhanden ist.
Narren setzen nachts auf die Glücksfontänen
auf die Sterntraufen.
Du oder ich oder wer: sollten wir Tränen
kaufen?
1958/59
aus: Hans Peter Keller: Extrakt um 18 Uhr, Limes Verlag, Wiesbaden 1975
Der Begegnung mit sich selbst sieht dieser Autor mit gedämpften Erwartungen entgegen. Denn da gibt es zunächst nur ganz nüchtern und lakonisch die Ich-Spaltung und Selbstentfremdung zu konstatieren. Der vom Niederrhein stammende Hans Peter Keller (1915–1989), der als Kriegsteilnehmer die Skepsis gelernt und nach 1945 Philosophie studiert hatte, arbeitete als Lektor, Literaturlehrer und freier Schriftsteller. Sein Befund zur Lage des Subjekts ist desillusionierend.
Das lyrische Subjekt des um 1958/59 entstandenen Gedichts vertraut auf „Umwege“ und Maskeraden. Ob ihm allerdings die Fraternisierung mit den Helden der Straße, mit den Vertretern der Ordnung und der Unordnung weiterhilft, bleibt offen. Auch bleibt fraglich, ob die Rolle des Narren, der sich „Glücksfontänen“ erfindet, zur Stabilisierung des Ich beiträgt. Ihren Dichterkollegen Hans Peter Keller hat Hilde Domin einmal einen „Realisten“ genannt, der „fatale Lebenslagen“ poetisch zu benennen versteht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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