HANS SAHL
Strophen
Ich gehe langsam aus der Welt heraus
in eine Landschaft jenseits aller Ferne,
und was ich war und bin und was ich bleibe,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile
in ein bisher noch nicht betretenes Land.
Ich gehe langsam aus der Zeit heraus
in eine Zukunft jenseits aller Sterne,
und was ich war und bin und immer bleiben werde,
geht mit mir ohne Ungeduld und Eile,
als wär ich nie gewesen oder kaum.
1980er Jahre
aus: Hans Sahl: Wir sind die Letzten. Der Maulwurf, Luchterhand Literaturverlag, Hamburg-Zürich 1991
„Anstatt dem Schöpfer für jeden Tag zu danken, den er mir schenkte, habe ich mir oft gewünscht, den nächsten nicht mehr zu erleben“: Diesen Satz notierte Hans Sahl (1902–1993) in seinem Exil-Roman Die Wenigen und die Vielen (1959) und resümierte damit seine Erfahrungen von Flucht, Vertreibung, politischer Ausgrenzung und doppelter Isolation in der Fremde. Erst in seinen letzten Lebensjahren fand der nach New York emigrierte Berliner Jude zu einer ruhigen Gelassenheit angesichts der Gewissheit des nahenden Todes.
Der Feuilletonist Sahl, Abkömmling einer großbürgerlichen jüdischen Familie, musste 1933 vor den Nazis zunächst nach Paris fliehen und gelangte nach einer abenteuerlichen Flucht in die Vereinigten Staaten. Erst 1989 kehrte er nach Deutschland zurück. Ende der 1980er Jahre entstandenen „Strophen“ sprechen in ruhiger Gefasstheit vom allmählichen Hinübergleiten in das Kraftfeld des Todes.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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