Hans Ulrich Hirschfelders Gedicht „Familienalbum“

HANS ULRICH HIRSCHFELDER

Familienalbum

Freitags Fisch, sonnabends
war Badetag. Meine Mutter
sah ich vor allem auf den Knien.
Ihr Mann sortierte Briefmarken.
Nachts ein Tränensee im Bett,
ich stopfte mich mit Kokosflocken.
Im Keller hockte ein guter Geist,
der mich verführte. Nur noch
zu Pellkartoffeln mit Quark
kam ich ans Licht.

2003/2004

aus: Jahrbuch der Lyrik 2005. Hrsg. von Christoph Buchwald und Michael Lentz. C.H. Beck Verlag, München 2005

 

Konnotation

Eine Familienidylle zeichnet im folgenden Gedicht der 1954 in Hermannstadt/Rumänien geborene Hans Ulrich Hirschfelder nur scheinbar. Die beschriebene Szenerie entspräche einem christlich-konservativen Rollenverständnis für die Mitglieder der Familie durchaus, nur zeigt das Idyll hier schon Zeitspuren, erweist sich als brüchig und abgründig.
Eine klar strukturierte Lebenswelt: Während der distanziert beschriebene Vater als Privatmann seinem Hobby des Briefmarkensammelns nachgeht, sind die übrigen Familienprotagonisten alten Mustern unterworfen: die Mutter putzt und das Kind weint. Scheinbar verwunschen wirkt die Atmosphäre, sobald der gute Geist – der freilich auch „Verführer“ ist – ins Spiel kommt, als hätte diese Lebenswelt sich schon lange überlebt. Unentschieden bleibt, oh das Kind sich der Erwachsenenwelt entzieht, vom „guten Geist“ missbraucht wird oder in eine von Aberglauben beseelte, ursprünglichere Welt flüchtet.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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