HARALD HARTUNG
Ghasel
Er ist nicht in Saigon und nicht im Hadramaut gewesen
noch wo man Opium raucht und wo man Betel kaut gewesen
Umsteiger war er meist wär lieber gradeaus gefahren
und was er sonst erfuhr ist nicht auf seiner Haut zu lesen
Er war korrekt rasiert trug Ober- und auch Unterhemden
Er zischte Bier doch gab beim Fußball keinen Laut am Tresen
Er las die Zeitung doch er hätte gern die Zeit gelesen
Er hat es nie gelernt in dem was man verdaut zu lesen
Er trank und speiste gern auch Bilder waren seine Speise
In Licht und Wasser schien gelöst und auferbaut: das Wesen
Er kommt mir oft im Traum als wolle er bald Abschied nehmen
Er schaut mich lange an als wär ich ihm vertraut gewesen
2000
aus: Harald Hartung: Aktennotiz meines Engels. Gedichte 1957–2004, Wallstein Verlag, Göttingen 2005
Die arabisch-persische Gedichtform des Ghasels wurde im 19. Jahrhundert durch Dichter wie August von Platen und Friedrich Rückert in die deutsche Lyrik importiert. Neben einer festen Zeilen-Zahl (bis zu 18) gehört die Wiederholung des Auslautes der ersten Zeile im Auslaut der folgenden Verse zu den Eigentümlichkeiten dieser Gedichtform. Der 1932 geborene Lyriker und Kritiker Harald Hartung liefert ein Beispiel für die meisterhafte Adaption des Ghasels.
Die ersten beiden Zeilen liefern mit dem Hinweis auf das jemenitische Hadramaut, ein Zentrum der arabischen Zivilisation, eine Reminiszenz an die literarische Herkunft des Ghasels. Kernmotiv des Gedichts, das Hartung im Jahr 2000 geschrieben hat, ist die Biografie eines Mannes, dessen Leben eher unspektakulär verlaufen ist. In einer Traumszene offenbart das lyrische Ich die enge Vertrautheit mit dem Porträtierten. So kann man das „Ghasel“ als anrührendes Dokument einer zwischen Fremdheit und Nähe schwankenden Vater-Sohn-Beziehung lesen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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