Heiner Müllers Gedicht „Traumwald“

HEINER MÜLLER

Traumwald

Heut nacht durchschritt ich einen Wald im Traum
Er war voll Grauen Nach dem Alphabet
Mit leeren Augen die kein Blick versteht
Standen die Tiere zwischen Baum und Baum
Vom Frost in Stein gehaun Aus dem Spalier
Der Fichten mir entgegen durch den Schnee
Trat klirrend träum ich seh ich was ich seh
Ein Kind in Rüstung Harnisch und Visier
Im Arm die Lanze Deren Spitze blinkt
Im Fichtendunkel das die Sonne trinkt
Die letzte Tagesspur ein goldner Strich
Hinter dem Traumwald der zum Sterben winkt
Und in dem Lidschlag zwischen Stoß und Stich
Sah mein Gesicht mich an: Das Kind war ich.

1994/95

aus: Heiner Müller: Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1998

 

Konnotation

Gegen Ende seines Lebens betätigte sich der Dramatiker Heiner Müller (1929–1995) fast nur noch als sarkastisch-geschichtspessimistisches Orakel, abrufbar auf allen Fernsehkanälen der Republik. In seinen letzten Lebensjahren entstanden jedoch auch bewegende Gedichte, in denen der Autor seine eigene Todesverfallenheit in strenge Formen fasste.
Müllers wütende Geschichtsphantasmagorien lösten sich auf, je näher die Todesdrohung an den Autor nach einer Krebsoperation im Herbst 1994 heranrückte. Sein Traumtext, metrisch geformt zu fünffüßigen Jamben, gehört sicherlich zu den bewegendsten poetischen Zeugnissen am Ende des 20. Jahrhunderts. In einem Alptraum widerfährt dem Sterbenden die Wiederbegegnung mit sich selbst als Kind. Das Kind tritt auf in der martialischen Rüstung jener Figuren aus den geschichtsfatalistischen Stücken Müllers, in denen sich Geschichte als grauenvolles Schlachten vollzieht. Es ist, wie beim sterbenden Jesus Christus, ein Lanzenstich, der den imaginierten Tod herbeiführt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00