Heinz Kahlaus Gedicht „Tag der Einheit“

HEINZ KAHLAU

Tag der Einheit

Am Tag der deutschen Einheit
saß ich zwischen dem, was war.
Ich war ummüllt von Werbung und von Briefen,
die Geld von mir verlangten,
und war ganz und gar
mit dem beschäftigt,
was das nächste Jahr
von mir verlangen könnte. In den Tiefen
der Seele kochte das,
was da seit je gefangen:
die kalte Wut
auf jede Art von Staat.
Der dritte will mich in sein Muster zwängen.

Ich feierte den Tag mit Zorngesängen.

um 1990

aus: Heinz Kahlau: Sämtliche Gedichte und andere Werke. Hrsg. V. Lutz Görner. Aufbau Verlag, Berlin 2006

 

Konnotation

In der Popularität des Dichters Heinz Kahlau (geb. 1931) gibt es noch immer eine markante Ost-West-Schieflage. In der DDR gehörte er zu den erfolgreichsten „Versemachern“ und bis heute genießt er unter ostdeutschen Lesern eine hohe Reputation. Die lyrischen Werke des Brecht-Meisterschülers werden indes im Westen kaum wahrgenommen – obwohl seine Realismus-Ästhetik auf einem souveränen Umgang mit den überlieferten Reimformen und der lyrischen Tradition beruht.
In seinem um 1990 entstandenen Gedicht zum wiedervereinigten Deutschland mobilisiert Kahlau die alte Dichotomie zwischen Geist und Macht. Das neue Deutschland wird mit äußerster Skepsis inspiziert, ein offenbar bürokratisch geprägter Staat, der seine Bürger aggressiv mit „Werbung“ und Geld-Forderungen überzieht. Das lyrische Ich markiert eine unüberbrückbare Distanz zum „Muster“ des neuen Staatswesens. Die „kalte Wut / auf jede Art von Staat“ mag marxistisch unterfüttert sein, aber sie unterscheidet sich kaum vom Maulheldentum gegen alles Etatistische.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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