HELGA M. NOVAK
Bekenntnis
ich bin ostdeutsch das zieht sich hin
wie der Rauch an erloschenen Dochten
ich bin ostdeutsch das wächst
wie der Pilz zwischen Menschenzehen
ich zähle die Pfennige meiner Mark
der Soldat den ich nicht warb
frißt stets einen Teil von Hundert
ich bin deutsch und nicht nur
der Sprache nach
ich bin ostdeutsch solange
die Pfähle nicht morschen
solange Mißtrauen und Spitzel
die hausgemachten Soßen würzen
sitze ich an der kahlen Seite des Tisches
ich bin ostdeutsch und ziehe
einen Klumpen Hoffnung hinter mir her
1963
aus: Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte, Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 1999
Eine junge Ost-Berlinerin, die nach Island geheiratet hatte und dort in Fischfabriken und Webereien arbeitete, veröffentlichte 1963 in Reykjavik im Selbstverlag ein Gedichtbuch mit dem knappen Titel Ostdeutsch. Das erregte zunächst wenig Aufsehen. Doch als zwei Jahre später der westdeutsche Rotbuch-Verlag den gleichen Band unter dem Titel Ballade von der reisenden Anna publizierte, machte er die Verfasserin, die 1935 geborene Helga M. Novak, mit einem Schlag bekannt. Und die DDR hatte ihren kulturpolitischen Skandal.
Novaks lyrisches Misstrauensvotum gegenüber dem SED-Staat zerrte an den schwachen Nerven der DDR-Kulturpolitiker. So kam es, dass Helga M. Novak 1966, zehn Jahre vor der Biermann-Ausbürgerung, als erste Schriftstellerin der DDR ihr Land verlassen musste. Seither lebt und schreibt diese geschichtsversessene Dichterin „im unwirtlichen Exil“: zuerst in Island, später in Frankfurt a.M., ab 1987 in den polnischen Wäldern in Masuren – wo sie unentwegt den „Klumpen Hoffnung“ hinter sich her zieht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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