Helga M. Novak
der Tod steht bei uns am Fenster
der Tod steht bei uns am Fenster
und sieht herein
wir schlagen kein Kreuz
damit er sich zurückziehe
wir lassen ihn stehen
der Tod steht bei uns auf der Schwelle
mit seinem erhobenen Fuß
wir fallen nicht auf die Knie
sondern singen ein Seemannslied
so fröhlich wie möglich
und lassen ihn stehen
der Tod sitzt bei uns am Tisch
will Haut und Knochen
bedient sich mit faulem Wein
ach wie wir essen und trinken
und haben ihn übersehen
um 1980
aus: Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte. Hrsg. von Rita Jorek. Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung, Frankfurt a.M. 1999, 2008
Ist es stoische Gelassenheit? Oder eine lange eingeübte Verdrängungskunst? Souveränität oder Daseinsvergessenheit? Das lyrische Ich der Dichterin Helga Novak (geb. 1935) beweist hier jedenfalls eine seltene Stärke: Der übermächtige Tod, dessen Präsenz fühlbar ist, wird in seinen Ansprüchen ignoriert. Aber ist die gegen ihn mobilisierte Fröhlichkeit krisenresistent?
Helga Novaks Werk wird angetrieben von einer geschichtsarchäologischen Neugier. Ihre Balladen, Lieder und störrischen Prosagedichte unternehmen Grabungen in der menschlichen Frühgeschichte, in den Landschaften des Ostens und in den Schrecken der deutschen Vergangenheit. Die Renitenz der Autorin, die in der DDR rasch in Konflikt geriet mit der Obrigkeit, ließ sie zu politisch eigensinnigen Vagantin werden, die sich nach einer langen Odyssee 1987 in den Wäldern Masurens niederließ. Der Tod wird in ihrem um 1980 entstandenen Gedicht zunächst in die Schranken gewiesen. Die dritte Strophe aber deutet an, dass seine Forderungen langfristig nicht abgewiesen werden können.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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