HELGA M. NOVAK
FINDE MICH ABENDS beim Knochenspiel
luftgetrocknet ist schnell ein Totes
ausgesogen abgenagt und gebleicht
begegne mir abends im doppelten Licht
hilf mir Gebeine sammeln Knöchelchen
die legen wir zusammen fleischlos
unser nächtliches Mikado
auf dem Rücken liegend wie Monde
1980er Jahre
aus: Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Hrsg. v. Rita Jorek. Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 1999
Das Nomadisieren hat die Dichterin Helga Novak (geb. 1935) schon früh einüben müssen. Aufgewachsen bei Adoptiveltern, brach sie ihr Journalistik-Studium in Leipzig ab, floh nach Island, kehrte in die DDR zurück und arbeitete dort am Fließband und als Elektroschweißerin. Weder in der DDR noch in Island konnte sie heimisch werden. Novak übersiedelte in die Bundesrepublik und floh erneut 1987 in die polnischen Wälder bei Masuren. In ihren nach 1980 entstandenen Gedichten dominiert ein archäologischer Impuls, ein Graben in der Materie der Geschichte.
Das hier evozierte „Knochenspiel“ meint die Auseinandersetzung mit den toten Vorfahren – und zugleich ein rituelles Beschwören des Schicksals, als könnten die die Zukunft der Lebenden offenbaren. Es sind offenbar zwei Liebende, die sich – „auf dem Rücken liegend“ diesem „Knochenspiel“ verschrieben haben. Sie loten aus, was die (gemeinsame?) Zukunft noch an Überraschungen bereit halten könnte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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