Helga M. Novaks Gedicht „KEIN ZUFALL daß ich hier gelandet bin…“

HELGA M. NOVAK

KEIN ZUFALL daß ich hier gelandet bin
das Licht hat mich hergezogen
dies Gelb dies Grün sind anderswo anders
und nirgends riecht der trockene Sand wie hier
anstatt weiterhin Landschaften abzugrasen
habe ich mich verschrieben – der Eiszeit
dem Verlauf ihrer Schmelzwasser Mahlströme
habe mich ins Miozän gekniet
Meßtischblätter archäologische Mappen
Tabellen Zeittafeln Wanderkarten ausgebreitet
Übergänge gesucht vom Urstromtal zur Endmoräne
lockere Erde hell heiter unfruchtbar
und bin hier gelandet für immer
diesmal vergesse ich nicht daß ich auf Abruf lebe

1989

aus: Helga M. Novak: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte. Hrsg. v. Rita Jorck. Schöffling & Co., Frankfurt a.M. 1999

 

Konnotation

Die Gedichte der lyrischen Anarchistin und „Wildbeuterin“ Helga M. Novak (geb. 1935) sind geprägt durch eine große Sehnsucht nach der vor-zivilisatorischen Urgeschichte. Das lyrische Ich gräbt sich hinunter in Sand und Moor, hinweg aus der Gegenwart – und landet hier im „Miozän“, in rohen Eiszeitformationen, im Phantasma großer geologischer Verschiebungen. Im „Schmelzwasser“ der Vorzeit hofft das Subjekt auf belebende „Übergänge“.
Die in der Mark Brandenburg als „Findelkind“ aufgewachsene Novak wurde 1966 aus der DDR ausgebürgert und zog sich 1987 in die polnischen Wälder zurück. Die Wildheit dieser Waldregionen erinnerte sie an ihre Kindheitslandschaft, der Mark Brandenburg. In diesen Wäldern soll gelingen, was ihr in ihrer nomadischen Existenz verwehrt blieb: eine existenzielle Verwurzelung. Und doch thematisiert das lyrische Ich dieses 1989 erstmals veröffentlichten Gedichts auch das Provisorische dieser Ansiedelung – und die eigene Vergänglichkeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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