Hermann Kasacks Gedicht „Treppe“

HERMANN KASACK

Treppe

Ich gehe die Schritte
Und zähle die Zeit.
Der Reim ist verloren.
Ich zähle die Schritte
Und gehe die Zeit.
Der Reim ist verloren
Ich zähle die Zeit.

nach 1950

aus: Hermann Kasack: Wasserzeichen. Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1964

 

Konnotation

Der Schriftsteller Hermann Kasack (1896–1966) ist dem literarischen Bewusstsein nur noch als Verfasser der existenzialistischen Romans Die Stadt hinter dem Strom präsent, der Vision einer Hadeswanderung, die als versteckte Kritik totalitärer Herrschaft gelesen wurde. Kasack hatte das Buch noch während der nationalsozialistischen Herrschaft verfasst, es konnte aber erst 1947 erscheinen. Dass Kasack primär Lyriker war, der fast zehn Gedichtbände publiziert hat, ist heute vollkommen vergessen. Nach expressionistischen Anfängen verlegte er sich bald auf lyrische Denkbilder und gedankenlyrische Sentenzen.
Das lakonische Gedicht über den Gang eines Einsamen, das formal nach der im Titel avisierten Treppen-Struktur gebaut ist, verzeichnet eine Verlusterfahrung. Eigentümlich tonlos registriert das lyrische Subjekt seine reduzierten Lebensäußerungen. Es geht einzig noch um das positivistische Vermessen der eigenen Schritte und das Aufzeichnen der unentrinnbar verstreichenden Zeit.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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