HERMANN LINGG
Das Krokodil
Im heil’gen Teich zu Singapur
Da liegt ein altes Krokodil
Von äußerst grämlicher Natur
Und kaut an einem Lotosstiel.
Es ist ganz alt und völlig blind,
Und wenn es einmal friert des Nachts,
So weint es wie ein kleines Kind,
Doch wenn ein schöner Tag ist, lacht’s.
1854
Der heute vergessene Münchner Dichter Hermann Lingg (1820–1905) war ursprünglich Militärarzt, bis er nach einem blutigen Scharmützel im Gefolge der Revolutionsereignisse von 1848 einen Nervenzusammbruch erlitt und zwangspensioniert wurde. Seinen bescheidenen Ruhm verdankt er nicht seinen aufwändigen historischen Dramen und Versepen – z.B. der dreibändigen Völkerwanderung (1866–68) –, sondern einem heiteren Gedicht über ein Reptil.
Das Gedicht begeisterte die Münchner Dichterfreunde Linggs so sehr, dass sie 1854, sehr bald nach der Niederschrift des Gedichts, einen nachgerade berühmten Dichterkreis nach dem „Krokodil“ benannten. Mit Weinlaubkränzen im Haar inszenierten die Dichter ihre Zusammenkünfte als weihevolle Rituale. Über den tieferen Sinn des grämlichen Reptils im Gedicht wurden schon abenteuerliche Spekulationen angestellt: Ein Interpret sieht darin das verdrossene, nicht zur Ruhe gekommene deutsche Volk.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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