Hermann von Gilms Gedicht „Allerseelen“

HERMANN VON GILM

Allerseelen

Stell’ auf den Tisch die duftenden Reseden,
Die letzten roten Astern trag’ herbei
Und laß uns wieder von der Liebe reden,
Wie einst im Mai.

Gieb mir die Hand, daß ich sie heimlich drücke,
Und wenn man’s sieht, mir ist es einerlei;
Gieb mir nur einen deiner süßen Blicke,
Wie einst im Mai.

Es blüht und funkelt heut auf jedem Grabe,
Ein Tag im Jahre ist den Toten frei;
Komm’ an mein Herz, daß ich dich wieder habe,
Wie einst im Mai.

1840

 

Konnotation

Von den zahllosen Gedichten und Sonetten, die der Tiroler Jurist, Dichter und Freidenker Hermann von Gilm (1812–1864) geschrieben hat, ist der literarischen Nachwelt nur jenes im Gedächtnis geblieben, das duftende Blumenpracht mit einem katholischen Totengedenktag verbindet. Die Refrainzeile darin ist immerhin sprichwörtlich geworden: „Wie einst im Mai“.
Das um 1840 verfasste Gedicht hat den Charakter einer rituellen Beschwörung: Denn eine verlorene Liebe soll im gemeinsamen Gespräch, durch Gesten, Berührungen und nicht zuletzt durch symbolische Handlungen – den Blumenschmuck – wieder zum Leben erweckt werden. Die da „von der Liebe reden“, scheinen sie nicht mehr zu besitzen. Die Musikalität dieser Zeilen hat den Komponisten Richard Strauss 1885 zu einer Vertonung angeregt. Zu vermuten ist auch eine literarische Einfluss-Linie: Reseden und Astern wurden später die Lieblingsblumen Gottfried Benns.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007

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