Hilde Domins Gedicht „Ich bewahre mich nicht“

HILDE DOMIN

Ich bewahre mich nicht

Ich fiel mir aus der Hand
Ich flügelschlagend
fiel auf den Kies
die Flügel schlagend

Mit ausgebreiteten Flügeln
ich bewahre mich nicht
mit ausgebreiteten Flügeln
verlaß ichs

1960er Jahre

aus: Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. Hrsg. v. Nikola Herweg und Melanie Reinhold. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2009

 

Konnotation

Jemand fällt heraus aus seinem Ich und aus der Welt – und liegt schutzlos da. Die deutsch-jüdische Dichterin Hilde Domin (1909–2006) hat in ihrer 1999 erstmals in Buchform veröffentlichten Miniatur auf bewegende Weise das Ringen um Selbstbehauptung festgehalten – und zugleich das Einverständnis mit dem Selbstverlust und dem Sterbenmüssen.
Zunächst wehrt sich das Ich des Gedichts, das als geflügeltes Wesen auftritt, gegen den drohenden Sturz. Viermal wird in den acht Zeilen auf die Bewegung der Flügel verwiesen. Aber weder wird der Sturz aufgehalten noch die Unversehrtheit des Ich bewahrt. Aber was wird verlassen – das Ich, die Welt oder das Leben? „Ich bewahre mich nicht“: Die emphatische Sentenz in der sechsten Zeile, die dem Gedicht den Titel gibt, deutet hin auf einen endgültigen Abschied.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009

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