HILDE DOMIN
Linguistik
Du mußt mit dem Obstbaum reden.
Erfinde eine neue Sprache,
die Kirschblütensprache,
Apfelblütenworte,
rosa und weiße Worte,
die der Wind
lautlos
davonträgt.
Vertraue dich dem Obstbaum an
wenn dir ein Unrecht geschieht.
Lerne zu schweigen
in der rosa
und weißen Sprache.
1961/62
aus: Hilde Domin: Gesammelte Gedichte, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987
Als Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts in Köln hat die Dichterin Hilde Domin (1909–2006) schon früh die Erfahrung des Ausgestoßenseins und Vertriebenwerdens durchleiden müssen. Diese Erfahrungen von Expatriierung und Sprachverlust haben sich in ihre Gedichte eingeschrieben. Während ihr jüdischer Dichterkollege Paul Celan auf das „furchtbare Verstummen“ und die „tausend Finsternisse todbringender Rede“ verwies, die seine Gedichtsprache zu durchlaufen hatte, reklamierte Hilde Domin stets das lyrische Wort als heile Gegenwelt.
Die lyrische „Sprachwissenschaft“, von der ihr 1961/62 entstandenes Gedicht handelt, weist der Sprache des Gedichts magische Energien zu: Die Poesie ist zum direkten Gespräch mit der Natur befähigt. Die „neue Sprache“ wird dabei mit den Attributen der Reinheit und der Unschuld versehen: Es gibt „rosa und weiße Worte“, eine „Kirschblütensprache“ und „Apfelblütenworte“ – und den Farben weiß und rosa werden ja traditionell Zartheit, Verletzlichkeit und Unschuld zugeordnet.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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