HILDE DOMIN
Überfahrt
Ein Kind
das macht die Ferne
es hat lockeres weißes Haar
es trägt ein schwarzes Kleid
es ist kein Kind
es steht in einem Boot
mir abgewandt
es hebt die Arme –
nicht zu mir –
auf der andern Seite ist Land
Ich sehe nur den Rand dieses Boots
und die seit immer bekannte
leichte
Drehung des Kopfs
nach 1980
aus: Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2009
Was hat sich alles eingeschrieben in Hilde Domins (1909-2006) Traumszene einer „Überfahrt“? Die Bootsfahrt jener geheimnisvollen Gestalten, die in Arnold Böcklins Toteninsel auf eine einsame Felsenformation im Meer zusteuern? Oder handelt es sich um das markante Sinnbild für einen Exilanten, der seiner Heimat den Rücken zukehrt und nach dem rettenden Ufer die Arme ausstreckt? Es ist jedenfalls ein sehr konzentriertes Gedicht von der Sehnsucht nach Rettung.
Auch das Leben der Dichterin selbst stand im Zeichen einer ewigen „Überfahrt“. Nicht zufällig hat Hilde Domin im Blick auf ihre Biografie von einer „linguistischen Odyssee“ gesprochen. Als Tochter eines jüdischen Rechtsanwalts in Köln geboren, verließ sie bereits 1932 Deutschland und gelangte mit ihrem späteren Mann, dem Romanisten Erwin Walter Palm, über Zwischenstationen in England in die Dominikanische Republik. Ihr nomadisches Dasein ging erst 1961 zu Ende, als sie „auf einem Umweg über den halben Globus“ mit ihrem Mann in ihren Studienort Heidelberg zurückkehrte. Ihr Aufstieg zur populärsten Lyrikerin der Nachkriegszeit hatte da bereits eingesetzt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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