Horst Samsons Gedicht „Pünktlicher Lebenslauf“

HORST SAMSON

Pünktlicher Lebenslauf

Nachts setzt sich der Vater
Den Stahlhelm auf,
Steckt sich ein Gebetbuch
In die Brusttasche
Und fährt mit seiner schwarzen NSU
Durch ein Minenfeld bei Narwa
In Richtung Leningrad

2005/2006

aus: Jahrbuch der Lyrik 2009. Hrsg. von Christoph Buchwald und Uljana Wolf. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2009

 

Konnotation

Der 1954 in Salcâmi, Kreis Ialomiţa (Rumänien) geborene Horst Samson stammt aus dem an der rumänisch-ungarischen Grenze gelegenen Albrechtsflor, heute Teremia Midă. Er ist damit Teil der deutschen Minderheit, die am Ende des Zweiten Weltkriegs von der kommunistischen Regierung in Bukarest aus dem Banat deportiert wurde, jener Minderheit in Rumänien, aus der so viele sprachmächtige Dichterinnen und Dichter stammen, deren Schaffen die Literatur der Bundesrepublik stark bereichert haben.
Eine spezielle Nachtschicht scheint der Vater anzutreten, der in diesem Gedicht Stahlhelm, Brusttasche und Bibel anlegt. Seine Fahrt auf dem militärischen Transport-Kettenfahrzeug findet jede Nacht statt. Dabei wiederholt sich mit deutscher Pünktlichkeit jeweils aufs Neue ein Kriegstrauma, dessen grausame Absurdität das Gedicht zeigt. Von einem Trauma allein kann aber nicht die Rede sein. Der von der Nachtschicht heimkehrende Vater ist als ewiger Wiedergänger unterwegs, als gelte es noch immer eine bisher unerledigte Aufgabe zu beenden.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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