HUGO BALL
Der Schizophrene
Ein Opfer der Zerstückung, ganz besessen
Bin ich – wie nennt ihr’s doch? – ein Schizophrene.
Ihr wollt, daß ich verschwinde von der Szene,
Um euren eigenen Anblick zu vergessen.
Ich aber werde eure Worte pressen
In des Sonettes dunkle Kantilene.
Es haben meine ätzenden Arsene
Das Blut euch bis zum Herzen schon durchmessen.
Des Tages Licht und der Gewohnheit Dauer
Behüten euch mit einer sichern Mauer
Vor meinem Aberwitz und grellem Wahne.
Doch plötzlich überfällt auch euch die Trauer.
Es rüttelt euch ein unterirdischer Schauer
Und ihr zergeht im Schwunge meiner Fahne.
1923/24
Sein Plädoyer für die schöpferische Kraft der Schizophrenie hat der Dadaist, poetische Freigeist und fromme Mystiker Hugo Ball (1886–1927) seinem Freund Hermann Hesse zugeeignet. Es steht an sechster Stelle eines Zyklus mit „Schizophrenen Sonetten“, der im Winterhalbjahr 1923/24 entstanden ist. Balls Gefährtin Emmy Hennings formulierte starke Zweifel an der Qualität dieses Sonetts: „Er (der Schizophrene) darf nicht aus seiner Verzauberung, von der (er) selbst nichts weiss, herausgehen…“
Weil Ball hier den Schizophrenen nicht als pathologischen Fall, sondern als schöpferischen Geist schildert, reagierten manche Leser gereizt. Das letzte Terzett kehrt ja die Verhältnisse um: Die Gesellschaft will sich vor dem „grellen Wahn“ des Kranken schützen, gerät aber in den Sog von dessen dynamischem Lebenswillen und seiner Welteroberungsphantasie.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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