Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Tobt der Pöbel“

HUGO VON HOFMANNSTHAL

Tobt der Pöbel

Tobt der Pöbel in den Gassen, ei mein Kind, so lass ihn schrei’n
Denn sein Lieben und sein Hassen ist verächtlich und gemein!
Während sie uns Zeit noch lassen, wollen wir uns Schönerm weih’n

Will die kalte Angst dich fassen spül sie fort in heissem Wein!
Lass den Pöbel in den Gassen: Phrasen, Taumel, Lügen, Schein,
Sie verschwinden, sie verblassen schöne Wahrheit lebt allein.

1890

 

Konnotation

Eine bemerkenswertes Bekenntnis eines frühreifen Poeten: Der zum Zeitpunkt der Niederschrift gerade mal 16jährige Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) wendet sich mit Grausen ab von den Forderungen der Straße. Am 1. Mai 1890 waren 150.000 Arbeiter durch die Straßen Wiens gezogen, eine gewaltige Demonstration der Stärke seitens der organisierten Sozialdemokratie. Für den jungen Monarchisten Hugo von Hofmannstahl agiert hier nur „der Pöbel“.
Es ist ein auffällig arroganter Ästhetizismus, den Hofmannsthal hier gegen die materiellen Grundbedürfnisse des Proletariats zur Geltung bringt: Die „schöne Wahrheit“ ist offenbar im privilegierten Besitz des Dichters, der sich mit der Formsicherheit seiner achthebigen Trochäen allem „Taumel, Lügen, Schein“ überlegen wähnt. Die Zumutungen des Sozialen werden mit der Huldigung an das „Schöne“ abgewehrt.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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