INGEBORG BACHMANN
Es ist Feuer unter der Erde,
und das Feuer ist rein.
Es ist Feuer unter der Erde
und flüssiger Stein.
Es ist ein Strom unter der Erde,
der strömt in uns ein.
Es ist ein Strom unter der Erde,
der sengt das Gebein.
Es kommt ein großes Feuer,
es kommt ein Strom über die Erde.
Wir werden Zeugen sein.
1954
aus: Ingeborg Bachmann: Lieder von einer Insel. Werke, Bd. 1. Gedichte. Piper Verlag, München 1978
In ihrem 1954 entstandenen Zyklus „Lieder von einer Insel“, der die künstlerische Symbiose Ingeborg Bachmanns (1926–1973) und des Komponisten Hans-Werner Henze auf der Insel Ischia zum Hintergrund hat, spricht die Dichterin in der letzten Strophe von der bedrohlichen Kraft eines mythischen Urstoffs, vom Element Feuer. In der poetischen Vision weitet sich das glühende Erdinnere aus zum großen, alles verschlingenden Strom.
„Es kommt ein großes Feuer“: In den Schlusszeilen artikuliert sich auch die Vorahnung einer großen Katastrophe, die sich aus der Erfahrung der politischen Verheerungen des 20. Jahrhunderts speist. Die Feuer-Metapher durchzieht das ganze Werk Bachmanns – man kann das als universelle Katastrophen-Prophetie lesen, aber auch als düsteres biographisches (Vor)Zeichen. Denn die Dichterin starb am 17.10.1973 an den Folgen schwerer Verbrennungen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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