Ingeborg Bachmanns Gedicht „Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,…“

INGEBORG BACHMANN

Es könnte viel bedeuten: wir vergehen,
wir kommen ungefragt und müssen weichen.
Doch daß wir sprechen und uns nicht verstehen
und keinen Augenblick des andern Hand erreichen,

zerschlägt so viel: wir werden nicht bestehen.
Schon den Versuch bedrohen fremde Zeichen,
und das Verlangen, tief uns anzusehen,
durchtrennt ein Kreuz, uns einsam auszustreichen.

nach 1950

aus: Ingeborg Bachmann: Werke Bd. 1 Gedichte. Piper Verlag, München 1978

 

Konnotation

Statt den Schmerz zu leugnen und seine Spuren zu verwischen, sei es Aufgabe des Schriftstellers, so Ingeborg Bachmann (1926–1973), den Schmerz wahrzuhaben und wahrzumachen „noch einmal, damit wir sehen können“. Es sei, so Bachmann weiter, jener Schmerz, der erst für die Erfahrung empfindlich mache und „insbesondere für die Wahrheit“. Für die Wahrheit hat die Dichterin ihr poetisches Sensorium stets offen gehalten. In ihren späten Gedichten thematisiert sie immer wieder das Ringen darum.
Ein Gedicht über den Tod zunächst, doch auch über das Ringen um Gemeinschaft mit einem im Gedicht enthaltenen Du. Sprache, so scheint es, taugt hier nicht zur Verständigung. Stets bedrohen „fremde Zeichen“, die beide nicht deuten können. Die Nichtauslegbarkeit der Mitteilungen wird hier kontrastiert vom Kreuz im letzten Vers, diesem deutlich auf das Ende verweisenden Zeichen. Doch auch dort verbirgt sich eine Mehrdeutigkeit, die in die Zeit des Nationalsozialismus reicht.

Norbert Lange (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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