INGEBORG BACHMANN
Reigen
Reigen – die Liebe hält manchmal
im Löschen der Augen ein,
und wir sehen in ihre eignen
erloschenen Augen hinein.
Kalter Rauch aus dem Krater
haucht unsre Wimpern an;
es hielt die schreckliche Leere
nur einmal den Atem an.
Wir haben die toten Augen
gesehn und vergessen nie.
Die Liebe währt am längsten
und sie erkennt uns nie.
1953
aus: Ingeborg Bachmann: Werke. Band 1. Piper Verlag, München 1978
Der Gedicht-Titel „Reigen“ verweist auf das berühmte Drama Arthur Schnitzlers (1862–1931) aus den Jahren 1896/97, in dem die verheerenden Folgen einer rein hedonistischen, egozentrischen Liebe und einer permissiven Erotik beschrieben sind. In ihrem Roman Malina (1971) hat Ingeborg Bachmann (1926–1973) dieses rücksichtslos autistische Liebesverhalten als „universelle Prostitution“ verurteilt. lm Gedicht „Reigen“ aus dem Jahr 1953 evoziert sie das verheerende Unglück, das die Liebe in all ihren Formen umgibt.
Die Eigenschaften, Attribute und Situationen, die hier dem „Reigen“ und der Liebe zugeordnet werden, negieren die Möglichkeit einer erfüllten, glücklichen Liebespassion. Das fiktive „Wir“ des Gedichts ist mit den „erloschenen“ oder „toten Augen“ der Liebe konfrontiert. Es werden die Erfahrungen eines universellen Unglücks benannt: Kälte und „schreckliche Leere“. Der Text entstand in einer Zeit, da für Ingeborg Bachmann die Umstände ihrer tragischen Liebe zu Paul Celan (1920–1970) „immer dunkler und bedrückender“ (so die Poetin in einem Brief) wurden.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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