INGEBORG KAISER
Zu bedenken
Teile dir mit
daß
meine sprache
unterwegs
zu dir
abhanden kam
falls sie
doch
eintreffen sollte
nimm sie nicht auf
ich brauche
jedes Wort
wenn wir
uns sehen
aus: Tränen ersatzlos gestrichen – Gedichte von Frauen. Gruner & Jahr, Hamburg 1988
Ingeborg Kaisers (geb. 1930) Gedichte rechnen damit, auf Anhieb verstanden zu werden. Bei aller lakonischen Kargheit, mit der die Schweizer Autorin ihre Botschaften verknappt, liegt doch der semantische Kern ihrer lyrischen Texte offen da. Die Kommunikationssituation, die sie in ihrem lyrischen Denkspiel untersucht, ist geprägt von Entfremdung und Stummheit. Am Ausgangspunkt der Begegnung zwischen einem Ich und einem Du, möglicherweise der Kontaktversuch zweier unglücklich Liebender, steht ein Sprachverlust.
Das Gedicht vollführt eine paradoxe Bewegung. Denn das Ich konstatiert seinen Sprachverlust und übermittelt gleichwohl eine Botschaft an das offenbar schwer erreichbare Du. Zugleich wird das Du aufgefordert die frei vagabundierenden Sprachzeichen des Ich nicht „aufzunehmen“. Erst wenn das Ich zur sprachlichen Autonomie zurückfindet, kann die schwierige Begegnung zwischen beiden überhaupt erst stattfinden.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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