IRISCHER MÖNCH DES 9. JAHRHUNDERTS
Kommen wird er übers meer her
mit seinem krummen stab
im mantel einen schlitz
für seinen schädel breit
wie ein beil sein grind und
den kopf voll ungereimtem zeug
An einem tisch vor seinem haus
wird er aus voller kehle singen
gottlose litaneien auf den lippen
und antworten werden sie ihm
so wird’s sein so wird’s kommen
(Übersetzung: Raoul Schrott)
nach 800
aus: Raoul Schrott (Hrsg.): Die Erfindung der Poesie, Eichborn Verlag, Frankfurt a.M. 1997
Schon im 6. Jahrhundert war die keltische Sprache überall auf dem Kontinent ausgelöscht und durch die lateinische ersetzt. Nur am Rand der solcherart zivilisierten Welt, jenseits des römischen Einflusses, konnten sich die alten Traditionen fragmentarisch aufrecht erhalten, so in Irland. Bei der Dichtung der irischen Wandermönche des 9. Jahrhunderts handelt es sich um Naturgedichte in prägnanter Sprache – Marginalien, Randglossen, nebenher entstanden beim mühseligen Abschreiben theologischer Texte.
Was das poetische Handwerk angeht, setzt diese Laien-Dichtung auf den Stabreim, die Alliteration, doch tauchen auch schon End- und Binnenreime auf. In Raoul Schrotts Anthologie Die Erfindung der Poesie (1997) ist dieses Gedicht das erste von insgesamt fünfzehn. Es wird einem Druiden in den Mund gelegt, in Opposition gegen den „übers Meer“ kommenden St. Patrick, den Apostel Irlands, und als Satire auf die Messe der christlichen Bischöfe.
Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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