Jakob Haringers Gedicht „Leben“

JAKOB HARINGER

Leben

Die Tage sind so bleiern schwer,
Als ob jeden Tag böse Schule wär.
Und auch die Nächte sind voll Graun,
Der böse Lehrer geht durch den Traum.
Die schöne Sonne kenn ich nicht,
Jeder Tag ist ein Landgericht,
Drinn bloß der schlechte Richter spricht.
Ganz in der Früh nach langer Nacht,
Da kommt der Henker schwarz und lacht.
Doch einmal muß das Wunder sein,
Der Schmerz wird dann zum Edelstein,
Das Dunkle liegt im Sonnenschein,
Und bloß noch Himmel hat die Nacht.

nach 1936

aus: Jakob Haringer: Lieder eines Lumpen, Werner Claassen Verlag, Zürich 1962

 

Konnotation

Jakob Haringer (1898–1948) ist der große Vagant der deutschen Literatur. Nach dem frühen Abbruch einer kaufmännischen Lehre führte er ein ruheloses Wanderleben. Haringer engagierte sich für die Münchner Räterepublik und wurde nach deren Niederschlagung mehrfach arretiert. Seit Anfang der Zwanzigerjahre war er ständig auf der Flucht, da er wegen unterschiedlichster Delikte wie Gotteslästerung oder Beamtenbeleidigung polizeilich gesucht wurde. 1936 wurde ihm von den Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt, im Exilland Schweiz wurde der eigensinnige Asylbewerber misstrauisch beobachtet.
Haringers Lieder eines Lumpen, die wie die meisten seiner Gedichte ursprünglich im Eigendruck erschienen, vergegenwärtigen in derber, mitunter auch tief melancholischer Labyrinthe der Macht und Bürokratie. Nach seiner Emigration in die Schweiz im Frühjahr 1938 lebte Haringer in bitterer Armut, und war bis zu seinem Tod auf Zuwendungen einiger weniger Gönner angewiesen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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