JAKOB VAN HODDIS
Weltende
Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut,
In allen Lüften hallt es wie Geschrei.
Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei,
Und an den Küsten – liest man – steigt die Flut.
Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.
1911
aus: Jakob van Hoddis: Dichtungen und Briefe, Arche Verlag, Zürich 1987
Als im Mai 1910 der Halleysche Komet am Sternenhimmel erschien, versetzte das die Weltbevölkerung in Angst und Schrecken, weil die Astronomen Spuren von Cyangas im Schweif des Kometen entdeckt hatten. Einige Monate später, im Januar 1911, veröffentlichte der 23-jährige Dichter Jakob van Hoddis (1887–1942) in der Zeitschrift Der Demokrat sein erstes Gedicht, das auf die Weltuntergangshysterie ironisch reagiert und damit zum lyrischen Gründungsdokument des Expressionismus wurde.
Das „Weltende“ wird hier nicht im auftrumpfenden Pathos vieler expressionistischer Gedichte beschrieben, sondern in einem beiläufigen, fast flapsigen Ton. Die im Reihungsstil organisierten Verse geben dem apokalyptischen Szenario etwas Lächerliches. Das Geschehen wird als mediales Spektakel aufgefasst und aus ironischer Distanz geschildert: „man liest“ nur von der Bedrohung. Und dass „die meisten Menschen“ einen „Schnupfen“ haben, ist nicht unbedingt ein Zeichen für das definitive „Weltende“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
Weltende 2023
Der Bürger:In wird plötzlich Angst und Bang, Durch alle Medien hallt es wie im Wahn. Radfahrer stürzen über Kleber auf der Bahn,
Und in der Arktis – hört man – wächst jetzt Tang.
Die Glut ist da, die wüsten Dünen wandern Umher um ganze Städte zu zermalmen. Die meisten Menschen schimpfen auf die andern. Die Schulen fangen langsam an zu qualmen.
– Volker Friedrich Marten, 5. Juli 2023
Weltende 2023
Der Bürger:In wird plötzlich Angst und Bang,
Durch alle Medien hallt es wie im Wahn.
Radfahrer stürzen über Kleber auf der Bahn,
Und in der Arktis – hört man – wächst jetzt Tang.
Die Glut ist da, die wüsten Dünen wandern
Umher um ganze Städte zu zermalmen.
Die meisten Menschen schimpfen auf die andern.
Die Schulen fangen langsam an zu qualmen.
– Volker Friedrich Marten, 5. Juli 2023