JAN WAGNER
kleinstadtelegie
die schattenkarawane, jeden morgen
ihr aufbruch, und die waschanlage,
die stets aus einem reinen schlaf erwachte.
und in den lieferwagen pendelten
die schweinehälften zwischen ja und nein,
den linden wuchsen herzen. und es paßte
nicht mehr als ein blatt papier zwischen mich und die welt.
und in den gärten, hinter allen hecken
verkündeten die rasenmäher den mai.
2004
aus: Jan Wagner: Guerickes Sperling. Berlin Verlag, Berlin 2004
Unter den jüngeren Lyrikern nimmt der 1971 geborene Jan Wagner mit seinen perfekt gebauten Stilleben, Miniaturen und Genreszenen eine vergleichsweise traditionalistische Position ein. Er liebt das genau konturierte Detail, die scharf umrissene Momentaufnahme und die metaphorische Überraschung. Wagner schärfte sein poetisches Sensorium als Übersetzer anglo-amerikanischer Autoren, etwa Charles Simic. Wie dieser versucht er das Geheimnis im Alltäglichen zu entdecken, die Sensation im Unscheinbaren.
Ein Gedicht entsteht, so Wagner, „an den Schnittstellen zwischen dem sogenannten Banalen und dem sogenannten Erhabenen.“ Das trifft auch auf die „kleinstadtelegie“ zu, unter deren Oberfläche ein stilles Pathos wirkt. Sie steht in Wagners Gedichtband Guerickes Sperling (2004) und ist mit feinem Gespür für Szenerien und Räume geschrieben. Die pendelnden Schweinehälften korrespondieren mit den herzförmigen Lindenblättern. Die Schein-Idylle des Maimorgens wird lakonisch vom unerbittlichen Lärm der Rasenmäher konterkariert.
Michael Buselmeier (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
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