Jesse Thoors Gedicht „In einem Haus“

JESSE THOOR

In einem Haus

In einem Haus, auf feinem Tannenreiser,
sitzen ein Bettelmann und ein Kaiser.

Beide summen und lachen und trinken
und reden laut und leise und winken.

Ein volles Jahr rollt über das Dach.
Ein volles Jahr rollt über das Dach.

ca.1949/50

aus: Jesse Thoor: Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2005

 

Konnotation

Jesse Thoor (1905–1952), Sohn eines steirischen Zimmermanns, wuchs als Peter Karl Höfler in einem Berliner Arbeiterbezirk auf. Der vielseitig Begabte zog als Vagabund durch Mitteleuropa, scheiterte aber bei seinem Versuch, als blinder Passagier auf ein Schiff zu gelangen. Ohne Geld und nur mit einem Sack voll Kaffeebohnen kam er nach Berlin zurück und exponierte sich dort im Kreis der anarchokommunistischen Schriftsteller um Erich Mühsam und Joachim Ringelnatz.
In seinen Anfängen schrieb er plebejische Balladen und Trinklieder in der Manier Erich Mühsams, später dann „Irrenhaussonette“ oder christlich-verzweifelte Lästergebete.
Ab 1949 gelingen Thoor einige ergreifende Gedichte von der Verlorenheit des ewigen Exilantendaseins. Aus diesen Nachkriegsjahren stammt auch die kleine lyrische Legende vom „Kaiser“ und „Bettelmann“, die nicht als Herr und Knecht sondern offenbar in trauter Eintracht Zeit und Raum durchqueren.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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