Jo Schulz’ Gedicht „Eh sich dein Mund mir auftut,…“

JO SCHULZ

Eh sich dein Mund mir auftut,
muß ich ein anderer werden.

Muß ich vor Sonnenaufgang
siebzehnmal um die Erde.

Muß mit den ersten ich reiten,
Vorhut auf flammenden Pferden.

Muß ich mich selbst überschreiten,
daß ich ein anderer werde.

nach 1960

aus: Lyrik der DDR. Hrsg. von Uwe Berger und Günther Deicke. Aufbau Verlag, Berlin/Weimar 1970

 

Konnotation

Der Lyriker und Satiriker Jo Schulz (1920–2007) exponierte sich in seinen literarischen Anfängen als Redakteur humoristischer Zeitschriften und Kabarettist ganz im Sinne der DDR-Literaturpolitik. In seinen Gedichten und Couplets des Bandes Abrechnung (1959) manifestieren sich aber auch grimmige Töne wider die Dogmen des SED-Staats. 1971 wurde Jo Schulz für sein Werk die Erich-Weinert Medaille der DDR verliehen.
Was sind das für Wünsche, die hier das lyrische Ich formuliert? Sind sie stimuliert durch die Forderungen nach einem „neuen Menschen“, den sich die Ideologen des real existierenden Sozialismus auf ihre Fahnen geschrieben hatten? Verfügt dieser „Andere“, von dem das lyrische Subjekt träumt, über das Bewusstsein der Avantgarde, das sich die Kommunistische Partei selbst zusprach? Strebt dieses Ich einen Heldenstatus an, wie der legendäre Kosmonaut Jurij Gagarin, der siebzehnmal die Erde umkreiste? Das poetische Subjekt dieses Gedichts scheint jedenfalls weit entfernt zu sein von jenem modernen, dissoziierten Ich, von dem einst Arthur Rimbaud behauptet hat: „Ich ist ein anderer.“

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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