Joachim Ringelnatz’ Gedicht „Der Stein“

JOACHIM RINGELNATZ

Der Stein

Ein kleines Steinchen rollte munter
Von einem hohen Berg herunter.

Und als es durch den Schnee so rollte,
Ward es viel größer als es wollte.

Da sprach der Stein mit stolzer Miene:
,Jetzt bin ich eine Schneelawine‘.

Er riß im Rollen noch ein Haus
Und sieben große Bäume aus.

Dann rollte er ins Meer hinein,
Und dort versank der kleine Stein.

1910

 

Konnotation

Die Gedichte von Joachim Ringelnatz (1883–1934) sind haltbar und in vielen Lebenslagen hilfreich. Die leichten, verspielten Reime des Dichters, Malers und Kabarettisten erzählen satirische, groteske, komische und frivole Geschichten; aber selbst da, wo sie einfach harmlos und lustig wirken, steckt fast immer auch ein gewisser Ernst, manchmal eine Moral.
„Der Stein der Weisen sieht dem Stein der Narren zum Verwechseln ähnlich“, hieß es einmal milde ironisch, entzaubernd und doch erleichternd. Das Gedicht „Der Stein“ führt Verwandlungen vor: Das muntere Geringe wird stolz, gewichtig und zerstörerisch. Dabei ist die große Schneelawine im Grunde nichts als ein wildgewordener kleiner Kiesel – auch hier eine erleichternde Entzauberung. Ohne Mitleid, aber auch ohne Vorwurf stellen die Verse klar, wie der Stein wieder wird, was er war. Man kann das Gedicht als Sinnbild fürs menschliche Leben lesen – wir kommen und gehen nackt – aber man kann sich auch schlicht an dem Bild vom rollenden Stein erfreuen.

Sabine Peters (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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