JOACHIM RINGELNATZ
Die neuen Fernen
In der Stratosphäre,
Links vom Eingang, führt ein Gang
aaaaaaa(wenn er nicht verschüttet wäre)
aaaaaaaSieben Kilometer lang
aaaaaaabis ins Ungefähre.
Dort erkennt man weit und breit
Nichts. Denn dort herrscht Dunkelheit.
aaaaaaaWenn man da die Augen schließt
aaaaaaaund sich langsam selbst erschießt,
aaaaaaaDann erinnert man sich gern
aaaaaaaAn den deutschen Abendstern.
1931
Im Juni 1931 startete der Meteorologe August Piccard zu einem spektakulären Ballonflug durch die Stratosphäre, ein damals vom neuen Medium Rundfunk weltweit verbreitetes Ereignis. In dieser Zeit entstand wohl auch das Gedicht des begnadeten Reimkünstlers und Humoristen Joachim Ringelnatz (1883–1934), der mit leichter Hand ein hintersinniges kleines Opus über die Unendlichkeit schrieb.
Die Absurdität und Komik dieser vermeintlichen Erklärung der Stratosphäre ist ein kluges Tarnmanöver. Denn dem Dichter geht es nicht um reine Belustigung über die wissenschaftlichen Bemühungen zur Erforschung des dunklen Weltalls. In all die kalauernde Virtuosität hat er eine Meditation über das Grauen vor dem Unendlichen und dem „Nichts“ eingeschmuggelt. Und dieses Grauen ist auch nicht durch den ironischen Hinweis auf den altgedienten Mythos vom „deutschen Abendstern“ zu tilgen. „Die neuen Fernen“ erschien 1932 in Ringelnatz’ Gedichtband Kinder-Verwirr-Buch. 1933 erteilten die Nazis dem Dichter Auftrittsverbot.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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