JOHANN GOTTFRIED HERDER
Die Lebensalter
Kindlein, Du genießest noch,
Und weißt nicht.
Jüngling, und Du hoffest doch,
Und hast nicht.
Aber, Greis, was soll Dein Streben,
Bangen und Beben,
Ewig zu leben?
Nach 1770
Den Schriften des Theologen, Kulturphilosophen und Dichters Johann Gottfried Herder (1744–1803) verdanken wir wesentliche Impulse für die Bewegung des „Sturm und Drang“ und der Klassik. Als Dichter stets im Schatten seines Freundes Goethe (1749–1832), begründete Herder 1771 als erster das Genre des „Volkslieds“, in Anlehnung an den englischen „popular song“. Aus der Beschäftigung mit Liedern und Balladen aus verschiedensten europäischen Sprachen, die dann posthum unter dem Titel Stimmen der Völker in Liedern erschienen, gewann Herder auch Maximen für seine eigene Lyrik.
Die Direktheit und Prägnanz von Herders poetischen Miniaturen und Sprüchen zeigt sich in der kleinen Reflexion über die Lebensalter. Bemerkenswert ist hier der skeptische Blick auf die reife Alters-Phase des Menschen: Hier spricht Herder nicht etwa von der Vollendung und harmonischen Rundung der Lebensgeschichte, sondern stellt die Vermessenheit der Spezies Mensch in Frage, die Unsterblichkeit für sich beansprucht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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