Johann Wilhelm Ludwig Gleims Gedicht „Letztes Gespräch“

JOHANN WILHELM LUDWIG GLEIM

Letztes Gespräch

Ich
Engel des Todes, du kommst, mich abzuholen: ich bitte
Mir zu sagen, wohin? – Engel des Todes, du schweigst?
Der Engel
Weil befohlen mir ist, dirs nicht zu sagen, so schweig ich;
Aber wohin du auch kommst, wartet dein Vater auf dich.

nach 1740

 

Konnotation

Die Literaturgeschichte hat über den Dichter Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) sehr streng geurteilt. Obwohl seine seit 1744 erschienenen Versuche in scherzhaften Liedern ein Erfolg gewesen waren, obwohl seine anakreontischen Tändeleien eine sinnliche Gegenbewegung gegen die moralische Strenge seiner Zeit einleiteten, spottete schon Immanuel Kant über die Harmlosigkeit von Gleims Versen, die „gemeiniglich nahe beim Läppischen“ seien. Es war wohl primär seine uferlose Produktion gefälliger Dichtungen, die das Ressentiment seiner literarischen Zeitgenossen provozierte.
Der kleine Dialog mit dem Todesengel, den Gleim in klassischen Distichen (= Zweizeilern, die aus einem Hexameter und einem Pentameter bestehen hier entwickelt, ist durchaus von handwerklicher Solidität. Um die Angst vor dem Reich des Todes etwas zu dämpfen, hat Gleim eine tröstende Pointe eingebaut. Ob jedoch die Allgegenwart eines begütigenden Vaters – gemeint ist wohl Gottvater – die Todeskandidaten zu beruhigen vermag?

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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