JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Den Originalen
Ein Quidam sagt: „Ich bin von keiner Schule;
Kein Meister lebt, mit dem ich buhle;
Auch bin ich weit davon entfernt,
Daß ich von Toten was gelernt.“
Das heißt, wenn ich ihn recht verstand:
„Ich bin ein Narr auf eigne Hand.“
1812
Den Kult des Originalgenies beanspruchen meistens eher zweitklassige Geister für sich. In einem besonders ungnädigen Vers, den er im November 1812 niederschrieb, mokiert sich der Meister höchstselbst, der Dichter Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). über den Originalitätsanspruch seiner mediokren poetischen Zeitgenossen. Er legt einem „Quidam“, also einem „Irgendwer“, hochfahrende Worte über die vermeintlich traditionslose Spontaneität des eigenen Schöpfertums in den Mund.
Goethe gibt zu verstehen, dass der Künstler wie jeder andere Mensch ebenso geistige wie leibliche Vorfahren braucht. Die Schöpfungen des Poeten stehen immer in einem kulturellen Zusammenhang einer Nation oder eines internationalen geistigen Raums, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreift und miteinander verknüpft. Was sich aber als „originell“ aufspreizt, sind meistens Schöpfungen eines „Narren“.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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