JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Dämmrung senkte sich von oben,
Schon ist alle Nähe fern;
Doch zuerst emporgehoben
Holden Lichts der Abendstern!
Alles schwankt ins Ungewisse,
Nebel schleichen in die Höh’;
Schwarzvertiefte Finsternisse
Widerspiegelnd ruht der See.
Nun im östlichen Bereiche
Ahn’ ich Mondenglanz und -glut,
Schlanker Weiden Haargezweige
Scherzen auf der nächsten Flut.
Durch bewegter Schatten Spiele
Zittert Lunas Zauberschein,
Und durchs Auge schleicht die Kühle
Sänftigend ins Herz hinein.
1829
Eine Anfrage, ob er etwas zu dem Berliner Musenalmanach für das Jahr 1830 beisteuern wolle, beantwortete Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) am 2. August 1829 so: „… ich habe unter meinen Sachen nichts einigermaßen von Gehalt und Folge als die Chinesischen Jahreszeiten“. Die Folge von vierzehn Gedichten, die er nach Berlin schickte, enthielt auch das heute sehr bekannte „Dämmrung senkte sich von oben…“. 1829 ist das Jahr, in dem Goethe seinen Wilhelm Meister beendete. Seine letzte Liebe zu der erst 19jährigen Ulrike zu Levetzow, die ihn abwies, lag zu diesem Zeitpunkt schon sechs Jahre zurück.
In dem Gedicht geht es um die sogenannten letzten Dinge. Als Naturgedicht camoufliert, ist es genau besehen eine Auseinandersetzung mit dem nahenden Tod und dessen „schwarzvertieften Finsternissen“. Goethe benutzt, wie in der Lyrik des Ostens üblich, mit der er sich wiederholt auseinandersetzte, Naturmetaphern dazu, menschliche Emotionen darzustellen.
Volker Sielaff (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010
Schreibe einen Kommentar