JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Den Vereinigten Staaten
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun Eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
1827
Es erstaunt, dass der urbane Europäer und Italien-Bewunderer Goethe (1749–1832) im Alter eine unbändige Amerika-Sehnsucht entwickelt hat und zugleich die abendländische Tradition in mancher Hinsicht als belastend empfand. Obwohl er sich 1786 bei seinem Aufbruch nach Italien für eine klassische Bildungsreise und nicht für ein amerikanisches Lebensideal entschieden hatte, schwärmte Goethe in seinem Gedicht von 1827 von einem Amerika, das vom kulturellen Gedächtnis noch unbelastet ist.
Der neue Kontinent und das alte Europa – diese Entgegensetzung, die in den weltpolitischen Hegemonialkonflikten des 21. Jahrhunderts wieder virulent geworden ist, wird in diesen Versen Goethes antizipiert. Fünf Jahre vor der Entstehung des Gedichts hatte Goethe notiert, dass jener „Weltteil glücklich zu preisen, dass er vulkanische Wirkungen entbehrt, wodurch denn die Geologie der neuen Welt einen weit festern Charakter zeigt als der alten, wo nichts mehr auf festem Fuß zu stehen scheint“. Das vulkanische Basaltgestein erschien ihm als Symbol solch negativeruptiver Kräfte.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
Nicht ganz verinnerlicht scheint Goethe in diesen Tagen zu haben, dass bereits damals eine furchtbare Kollektive Schuld auf den Schultern der aus Europa eingewanderten Begründernder Vereinigten Staaten lastete, indem sie gezielt im gesamten Kontinent die Bisons abschlachteten, um die Indigenen Bewohner ihrer Ernährungs- und spiritueller Grundlage zu berauben und sie damit zu zerstören.
Dieser Kommentar ist ein Paradebeispiel dafür, dass das Gedicht noch immer nichts an Aktualität verloren hat. 😉
“Amerika, du hast es besser…”