JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Die Jahre nahmen dir
,Die Jahre nahmen dir, du sagst, so vieles;
Die eigentliche Lust des Sinnenspieles,
Erinnerung des allerliebsten Tandes
Von gestern, weit- und breiten Landes
Durchschweifen frommt nicht mehr; selbst nicht von Oben
Der Ehren anerkannte Zier, das Loben,
Erfreulich sonst. Aus eignem Tun Behagen
Quillt nicht mehr auf, dir fehlt ein dreistes Wagen!
Nun wüßt ich nicht was dir Besondres bliebe‘.
Mir bleibt genug! Es bleibt Idee und Liebe!
1818
Was im Alter bleibt, sind Verluste. So muss man jedenfalls die ersten acht Zeilen von Goethes Gedicht verstehen, das die Lebensbilanz eines alten Mannes poetisch bündelt. Der Dichter war fast siebzig Jahre alt, als er 1818 sein Gedicht schrieb, das dann 1827 in der „Ausgabe letzter Hand“ des West-Östlichen Divans veröffentlicht wurde.
Was da im Parlando-Ton als Resümee hingeworfen wird, erzählt von der ernüchternden Erfahrung eines Altgewordenen, dem „die eigentliche Lust des Sinnenspieles“ abbanden gekommen ist. Es ist offenbar ein Gesprächspartner des Ich, der hier die Plagen des Alters aufzählt. Völlig überraschend folgt dann die stolze Widerrede des Ich zum Schluss: „Es bleibt Idee und Liebe!“ Das Alter hat offenbar doch Vorzüge: die Fähigkeit zur geistvollen Betrachtung und philosophischen Reflexion und ein Verständnis von Liebe, das über das „Sinnenspiel“ hinausführt.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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