Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Die Liebende schreibt“

JOHAN WOLFGANG VON GOETHE

Die Liebende schreibt

Ein Blick von deinen Augen in die meinen,
Ein Kuß von deinem Mund auf meinem Munde,
Wer davon hat, wie ich, gewisse Kunde,
Mag dem was anders wohl erfreulich scheinen?

Entfernt von dir, entfremdet von den Meinen,
Führ’ ich stets die Gedanken in die Runde,
Und immer treffen sie auf jene Stunde,
Die einzige; da fang’ ich an zu weinen.

Die Träne trocknet wieder unversehens:
Er liebt ja, denk’ ich, her in diese Stille,
Und solltest du nicht in die Ferne reichen?

Vernimm das Lispeln dieses Liebewehens;
Mein einzig Glück auf Erden ist dein Wille,
Dein freundlicher zu mir; gib mir ein Zeichen!

1807/1808

 

Konnotation

Unter den insgesamt siebzehn Sonetten, die Goethe (1749–1832) um 1807/08 schrieb, sind drei aus der Perspektive eines weiblichen Subjekts verfasst, mithin Rollenlyrik. In diesem Brief-Sonett lässt Goethe das Ich seine verzehrende Sehnsucht nach dem abwesenden Geliebten formulieren. Es ist eine Sehnsucht, die alles zu opfern bereit ist für den Augenblick der Erfüllung.
Um den Entstehungshintergrund dieses achten Sonetts zu erhellen, verweist die Goethe-Forschung gerne auf die Briefe, die Bettina Brentano bzw. Bettina von Arnim (1785–1859) 1807/08 an Goethe geschrieben hat: „Ich wollte“, so schreibt Bettina etwa 1807, „meinen Brief mit einem Blick in ihre Augen schließen.“ Goethe hat zunächst sehr zurückhaltend auf diese Briefe reagiert, 1811 dann, nach einer Brüskierung seiner Ehefrau Christiane durch Bettina, ließ er ihre Briefe unbeantwortet.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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