Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Epirrhema“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Epirrhema

Müsset im Naturbetrachten
Immer eins wie alles achten;
Nichts ist drinnen, nichts ist draußen:
Denn was innen das ist außen.
So ergreifet ohne Säumnis
Heilig öffentlich Geheimnis.

Freuet euch des wahren Scheins,
Euch des ernsten Spieles:
Kein Lebendiges ist ein Eins,
Immer ist’s ein Vieles.

1827

 

Konnotation

Das „Epirrhema“ ist ursprünglich ein Begriff aus der griechisch-antiken Theater-Dramaturgie und meint eine zwischen den Auftritten des klassischen Theater-Chors „dazugesprochene“ Rezitation. Bei Goethe (1749–1832) ist das „Epirrhema“ ein Gedankengedicht, ein persönliches Wort des Dichters an sein Publikum, das er in die Sammlung Gott und Welt (von 1827) aufnahm und zwischen die Gedichte „Die Metamorphose der Pflanzen“ und „Metamorphose der Tiere“ platzierte. Es ist die lyrische Summa seiner Naturbetrachtung.
Schon früh arbeitete Goethe darauf hin, „dasjenige zu finden, was allen Pflanzen ohne Unterschied gemein wäre“, und so entwickelte er in seinen Metamorphose-Gedichten einige Naturgesetze. Das „Epirrhema“ interessiert sich aber für mehr – für das schöpferische Prinzip überhaupt, für Mannigfaltigkeit im schöpferischen Prozess, für das Ineinandergreifen und die immer neue Ausdifferenzierung des Lebendigen.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006

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