Johann Wolfgang von Goethes Gedicht „Séance“

JOHANN WOLFGANG VON GOETHE

Séance

Hier ist’s, wo unter eignem Namen
Die Buchstaben sonst zusammen kamen.
Mit Scharlachkleidern angethan
Saßen die Selbstlauter oben an:
A, E, I, O und U dabei,
Machten gar ein seltsam Geschrei.
Die Mitlauter kamen mit steifen Schritten,
Mußten erst um Erlaubniß bitten:
Präsident A war ihnen geneigt;
Da wurd’ ihnen denn der Platz gezeigt;
Andre aber mußten stehn,
Als Pe-Ha und Te-Ha und solches Getön.
Dann gab’s ein Gerede, man weiß nicht wie:
Das nennt man eine Akademie.

1797

 

Konnotation

Für die Gebräuche und Regeln der akademischen Institutionen hatte der naturwissenschaftliche Autodidakt Goethe (1749–1832) nur Verachtung übrig. Bereits der 24jährige notiert am 21. August 1774 in einem Brief an Friedrich Heinrich Jacobi: „Akademie ist Akademie,… wo die satten Herren sitzen, die Zähne stochern und nicht begreifen, warum kein Koch was bereiten kann, das ihnen behage.“ Goethes Indifferenz gegenüber den akademischen Riten blieb auch dann noch bestehen, nachdem man ihn 1806 zum Auswärtigen Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin berufen hatte.
In einem Scherzgedicht, das vermutlich 1797 entstanden ist, hat Goethe schon früh das akademische Sitzungswesen als Inbegriff eines inhaltlich entleerten Wissenschaftsbetriebs persifliert. Die steifen, auf hierarchische Ordnung bedachten Rituale der Akademien erscheinen hier als sprachinterner Konkurrenzkampf zwischen Vokalen und Konsonanten, der nur leeres „Gerede“ hervorbringen kann.

Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00