JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Um Mitternacht
Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne,
Klein, kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin
Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern am Sterne,
Sie leuchteten doch alle gar zu schön;
aaaaaaaaaaaaaaaUm Mitternacht.
Wenn ich dann ferner in des Lebens Weite
Zur Liebsten mußte, mußte, weil sie zog,
Gestirn und Nordschein über mir im Streite,
Ich gehend, kommend Seligkeiten sog;
aaaaaaaaaaaaaaaUm Mitternacht.
Bis dann zuletzt des vollen Mondes Helle
So klar und deutlich mir ins Finstere drang,
Auch der Gedanke willig, sinnig, schnelle
Sich ums Vergangne wie ums Künftige schlang;
aaaaaaaaaaaaaaaUm Mitternacht.
1818
Sein 1818 geschriebenes Altersgedicht hat Goethe (1749–1832) zu seinem „Lebenslied“ erhoben – vielleicht weil es einige Traumata der Kindheit ausspricht? Wer den Text als unverstellt autobiographisches Zeugnis des Dichter-Ichs lesen will, greift zu kurz. Denn Goethes Vater, ein Kaiserlicher Rat, war kein Pfarrer, und das Elternhaus grenzte auch nicht an einen Friedhof. Es spricht also ein Rollen-Ich – und doch trifft der Befund dieses Subjekts offenbar eine Grundempfindung Goethes.
Die Charakteristik „Lebenslied“ ist sehr berechtigt, weil Goethes formal vollkommenes Gedicht zwar verhalten, aber doch unübersehbar von Zwangslagen spricht, die der Dichter durchlitten hat: von den Ängsten des Kindes, das vor einem strafenden Gott über den Kirchhof eilt; und von den komplexen Verstrickungen der Liebe, denen über viele Jahrzehnte hinweg nicht zu entrinnen war – nicht in der schwierigen „Seelenfreundschaft“ mit Charlotte von Stein, noch im Verhältnis zu seiner Ehefrau Christiane von Vulpius.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
Schreibe einen Kommentar