JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Wink
Und doch haben sie recht die ich schelte:
Denn daß ein Wort nicht einfach gelte
Das müßte sich wohl von selbst verstehn.
Das Wort ist ein Fächer! Zwischen den Stäben
Blicken ein Paar schöne Augen hervor.
Der Fächer ist nur ein lieblicher Flor,
Er verdeckt mir zwar das Gesicht,
Aber das Mädchen verbirgt er nicht,
Weil das Schönste was sie besitzt,
Das Auge, mir ins Auge blitzt.
1814
„Das Wort ist ein Fächer!“: Im Kontext eines Liebesgedichts hat der alte Goethe (1749–1832) in seinem ursprünglich „Widerruf“ betitelten Gedicht vom Dezember 1814 diesen poetologischen Hauptsatz eingeschmuggelt. Das dichterische Wort verbirgt hinter „einem lieblichen Flor“ das, was es direkt nicht bezeichnen kann. Aber durch das Verbergen tritt die Schönheit des Gemeinten um so reizvoller hervor.
Goethes Gedicht findet sich im „Buch Hafis“ seines West-Östlichen Divans, das Motive der Liebe, des Lieds und der Schönheitsempfindung ins Zentrum rückt. Das Zentralorgan der Schönheitsempfindung ist aber das Auge. Und nur das Auge kann den von Goethe in den „Noten und Abhandlungen“ zum West-Östlichen Divan erträumten Weg „vom Sinnlichen zum Übersinnlichen“ freilegen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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