JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Zahme Xenien V
aaaaaaaaaaWir
Du toller Wicht, gesteh nur offen:
Man hat dich auf manchem Fehler betroffen!
aaaaaaaaaaEr
„Ja wohl! doch macht’ ich ihn wieder gut.“
aaaaaaaaaaWir
Wie denn?
aaaaaaaaaaEr
„Ei, wie’s ein jeder tut!“
aaaaaaaaaaWir
Wie hast du denn das angefangen?
aaaaaaaaaaEr
„Ich hab’ einen neuen Fehler begangen.
Darauf waren die Leute so versessen,
daß sie des alten gern vergessen.“
1827
Angeregt durch seine Beschäftigung mit orientalischer Spruchdichtung, entwickelte Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens eine Vorliebe für antike Formen der Gelegenheitspoesie. Wie in den Epigrammen des römischen Dichters Martial (1. Jahrhundert n.Chr.) nannte er seine Verse „Xenien“, was ursprünglich „Gastgeschenke“ meint. Im Musenalmanach auf das Jahr 1797 hatte er bereits mit Schiller (1759–1805) polemische Xenien wider seine literarischen Rivalen verfasst. Im Alter schrieb er nun „Zahme Xenien“.
Die erste Sammlung dieser Xenien erschien 1820 in Goethes Zeitschrift Kunst und Altertum; das hier vorliegende Frage-Antwort-Spiel aus den „Zahmen Xenien V“ wurde erstmals 1827 in der Gedicht-„Ausgabe letzter Hand“ publiziert. Dass man, wie das Gedicht nahelegt, durch die Produktion neuer Irrtümer der alten Fehler enthoben sei, ist eine Strategie, der nicht immer Erfolg beschieden ist.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2010, Verlag Das Wunderhorn, 2009
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