Johannes Kühns Gedicht „Meeresebene“

JOHANNES KÜHN

Meeresebene

Meeresebene, weit sich dehnend, weit, sehr weit,
Schiffe darauf, spielerische mit Segeln, weißen,
ist für die Seele Wunder genug, es muß kein Herr
erscheinen,
um auf den Wellen zu wandeln,
damit wir glauben
an Göttliches.

2006/2007

aus: Johannes Kühn: Ganz ungetröstet bin ich nicht. Hanser Literaturverlag, München 2007

 

Konnotation

Als junger Mann war der in einer saarländischen Bergarbeiterfamilie aufgewachsene Johannes Kühn so berührt von Hölderlin, dass er ihn abschrieb, damit der Rhythmus auf ihn überginge. Kühn, Jahrgang 1934, verbrachte mehrere Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken. Zehn Jahre lang war er Hilfsarbeiter, nachts schrieb er Lyrik, die oft von Schmerzen und Leid sprach. Dann wieder war er nach eigenen Worten „ins Schweigen vermummt“.
Der Wortschöpfer Kühn kommt im Gedicht „Meeresebene“ weniger zum Ausdruck als in anderen Texten. Im Unterschied zu vielen seiner Gedichte, die von Todesangst- und Sehnsucht sprechen, wird hier die Erfahrung von Frieden in einer alliterativen Sprache vermittelt. Die Natur ist Gegenstand dichterischer Verehrung; sie ist auch ein Spiegel der Seele, auf die Ruhe und Weite des glatten, „ebenen“ Meeres übergehen. Kühn hat sich von traditionellen christlichen Glaubensvorstellungen gelöst: Das Meer bedarf keiner Wunder, es ist ein Wunder. Es bedarf keines Gottes, es ist göttlich.

Sabine Peters (Gedichtkommentar) Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2011, Verlag Das Wunderhorn, 2010

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