JOHANNES KÜHN
Mein Segelschiff
Das Regenwetter,
groß angekommen,
vergeht in der Sonne.
Nach ihm liegt in der Straßenmulde
ein Tümpel, ihn sprengt kein Rad,
kein Fuß,
er dünstet langsam empor.
Er wird in keinem Atlas stehn,
doch Kinder und Greise
umgehen ihn. Darauf schwimmen
laß ich ein Laubblatt,
das ist wie ein Segelschiff
dem armen Mann,
ein Segelschiff, das bald landet.
Demut
die große Tugend,
wie sie gelingt.
nach 1990
aus: Johannes Kühn: Leuchtspur. Gedichte. Hrsg. u.m. einem Nachwort v. I. u. B. Rech. Carl Hanser Verlag, München 1995
Wer wie der saarländische Naturdichter Johannes Kühn (geb. 1934) mit einem dauerhaft großen Staunen den Erscheinungen der Welt gegenübertritt, der gilt manch hartgesottenem Aufklärer als hoffnungslos naiv. Kühn selbst hat als „Mann mit dem Narrenhut“ sein poetisches Außenseitertum selbst eingeräumt – und sich gleichwohl nicht davon abhalten lassen, die unbegreifliche Welt als „böse oder lichte Wundererscheinung“ (Peter Rühmkorf) zu begreifen.
Und so haftet für den großen Naiven Kühn an unscheinbaren Naturdingen („Laubblatt“), Wetterzuständen oder Lichtverhältnissen immer eine „Leuchtspur“, die im Gedicht zur Sprache gebracht wird. Auch ein Tümpel kann zum imposanten Spiegel der Welt werden, sofern sich die menschliche Wahrnehmung auf seinen immanenten Zauber einlässt. Grundlage dieser Offenheit der Wahrnehmung ist eine alte religiöse Tugend, die von der Moderne als entbehrliche Sekundärtugend verachtet worden ist: die Demut. Bei Johannes Kühn genießt sie weiterhin poetisches Existenzrecht.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2009, Verlag Das Wunderhorn, 2008
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