JOSEPH VON EICHENDORFF
Der Soldat
Und wenn es einst dunkelt,
Der Erd’ bin ich satt,
Durchs Abendrot funkelt
Eine prächt’ge Stadt:
Von den goldenen Türmen
Singet der Chor,
Wir aber stürmen
Das himmlische Tor.
1835/36
Der militärische Angriff den hier der Romantiker Joseph von Eichendorff (1788–1857) imaginiert, gilt überraschenderweise nicht der profanen Bastion eines irdischen Feindes, sondern dem Himmelreich. Es kommt zum irritierenden Zusammenprall von christlicher und martialischer Metaphorik.
Der Himmel als Angriffsziel eines Soldaten, als Objekt der Eroberung: Dieses poetische Bild ist in der literarischen Epoche vor Eichendorff kaum denkbar. Das Barock hatte den Himmel in demütiger Frömmigkeit betrachtet, die nachfolgende Dichter-Generation der Realisten und Materialisten ließ ihn dann zum bloßen Sinnenreiz verblassen. Das „Soldat“-Gedicht von Eichendorff, das vor 1837 entstanden ist, spricht nun von aktiver Aneignung des Himmels. Solche Verse lassen sich auch aktualisierend gegen den Strich lesen: als poetische Antizipation jener todbereiten „Märtyrer“, die für ihre religiöse Überzeugung sterben wollen.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2007, Verlag Das Wunderhorn, 2006
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