JOSEPH VON EICHENDORFF
Nachtigall
Nach den schönen Frühlingstagen,
Wenn die blauen Lüfte wehen,
Wünsche mit dem Flügel schlagen
Und im Grünen Amor zielt,
Bleibt ein Jauchzen auf den Höhen;
Und ein Wetterleuchten spielt
Aus der Ferne durch die Bäume
Wunderbar die ganze Nacht,
Daß die Nachtigall erwacht
Von den irren Widerscheinen,
Und durch alle sel’ge Gründe
In der Einsamkeit verkünde,
Was sie alle, alle meinen;
Dieses Rauschen in den Bäumen
Und der Mensch in dunkeln Träumen.
1841
Die Beschwörung der Naturherrlichkeit und des Frühlings als der Jahreszeit, in der die Natur und die Sinne erwachen, gehört zu den zentralen Topoi im Werk des Romantikers Joseph von Eichendorff (1788–1857). Die alten Zauberwörter sind auch in diesem 1841 in der „Ausgabe letzter Hand“ von Eichendorffs Gedichten erschienenen Text präsent: das „Jauchzen“, das „Rauschen“, die „Bäume“ und die dazugehörigen „Träume“. Aber etwas passt nicht ins harmonische Bild: Die „irren Widerscheine“ der Naturdinge.
Wenn hier der Lieblingsvogel Eichendorffs, die Nachtigall, „erwacht“, dann schlägt er seine Augen auf in einer vexierhaft verspiegelten Welt, die nicht durchweg das Licht der Schöpfungsherrlichkeit offenbart. Es ist im Gegenteil die Nachtseite der Vernunft, „der Mensch in dunkeln Träumen“, die von der Nachtigall „verkündet“ werden. Schönheit und Schrecken liegen dicht beieinander.
Michael Braun, Deutschlandfunk-Lyrikkalender 2008, Verlag Das Wunderhorn, 2007
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